Prolog

San Myshuno

Draußen donnerte es und es regnete in Strömen. Passend zu ihrer Stimmung. Young Lee ging zum Spiegel und strich mit Tränen über das Glas. Sie sah wie ein Monster aus. Alle schauten sie schief an, wenn sie auf der Straße war oder in der Schule. Aber es war nicht immer so. Damals war sie eine Schönheit und alle Leute schauten sie beneidend an. Heute eher angewidert. Könnte sie nur die Uhr zurückdrehen. Ihren großen Bruder vor dessen Tod bewahren.

Vor zwei Jahren in Japan

Young und ihr großer Bruder Ryo verabschiedeten sich am Bahnhof von ihren Eltern Mutter Suki und Vater Tann. Ihre Eltern wollten auch mitkommen, aber die Arbeit rief ungeplant. Eigentlich hatten sie frei und wollten mit ihren Kindern zu den Eltern in die Berge fahren. Ihr Chef stornierte wegen zu vielen Krankmeldungen deren Urlaub und die Kinder mussten alleine reisen. Ryo war 17 Jahre alt und Young 15 Jahre. Die Großeltern wollten ein Auge auf die Enkel haben und sie verwöhnen. 

Während der langen Zugfahrt veränderte sich langsam die Landschaft. Zuerst war noch Metropole, dann Wald und am Schluss Schnee. Wie besprochen warteten die Großeltern am Bahnhof im Bergdorf und begrüßten ihre Enkel.

"Wie war die Reise?", fragte Oma. 

"Gut. Hier ist die Luft so erfrischend und sauber. Nicht wie die Großstadt, wo überall Smog ist", schwärmte Young.

"Langweilig. Hier gibt es leider kein Netz. Wie kann man nur ohne Internet leben? Seid ihr wahnsinnig?! Ich brauche so dringend Internet zum Überleben", jammerte Ryo und schaute aufs Smartphone tippend.

Seine Großeltern verdrehten die Augen und nahmen ihm das Teil ab. 

"Hier brauchst du dieses Ding nicht. Vielleicht tut dir eine Smartphonepause mal gut", schimpfte sein Opa.

"Ich sterbe. Hier und sofort. Gibt mir mein Smartphone zurück. Bitte", flehte Ryo.

"Nein. Erst, wenn du nach Hause fährst. Davor nicht. Smartphonepause. Genieße die Natur und die Luft. Die Gegend", sagte seine Oma.

"Aber hier friere ich mir den Arsch ab", meckerte Ryo zitternd.

"Du gewöhnst dich daran. Keine Sorge", sagte sein Opa.

Dann gingen sie zum Haus der Großeltern und belegten ihre Futons. Ryo war angefressen. Ohne sein Smartphone war er ein Niemand. Ein Loser.

"Bruderherz, lass uns doch in den nächsten Tagen mit der Seilbahn in die Berge fahren. Das lenkt dich ab", schlug Young gut gelaunt vor.

"Wenn du meinst. Habe eh gerade nichts zu tun", sagte er kalt.

Young bemerkte die fehlende Freude und versuchte dies zu überspielen. 

"Sei nicht so depri. Man kann sehr viel auch ohne Smartphone machen", sagte sie und ging aus dem Zimmer.

Ryo grübelte eine Weile und kam dann auch runter. Young und seine Großeltern saßen im Kotatsu und tranken Tee. Sie lächelten und wiesen ihn stumm an, sich auch einzukuscheln und etwas Tee beim Fernsehen zu trinken. Er setzte sich dazu und entspannte sofort. So entspannt war er schon lange nicht mehr. Immer hing er an diesem Ding und vergaß die wichtigen Sachen im Leben. Vielleicht hatten seine Großeltern recht und er sollte öfters das Smartphone weglegen. 

Drei Tage später wollten die Großeltern shoppen gehen und die Kinder fuhren mit der Gondel in die Berge. Dort war ein Cafe errichtet worden und man konnte beim Tee aufs Tal schauen. Der Atem und der Dampf zeichneten sich in der Luft ab und beide waren total entspannt. Am liebsten hätte er ein Foto zur Erinnerung gemacht, aber er hatte ja sein Smartphone nicht dabei. 

Seine Schwester kramte in ihre Tasche und holte eine alte Polaroidkamera raus. Sie reichte ihm das Gerät und sagte:

"Ich habe die gleiche Idee. Lass uns doch ein altmodisches Selfie machen."

Beide drehten sich Richtung Tal und er machte zwei Fotos. Sie lächelten und lagen sich strahlend in den Armen. Dann ging langsam die Sonne unter und beide fuhren mit der alten Seilbahn runter. 

Auf einmal stoppte sie und sie saßen in dem Waggon fest. Dazu ging noch das Licht aus und beide hatten große Angst. Er nahm sie in seine Arme und tröstete sie. Die anderen Passagiere im Waggon und in den anderen Waggons hatten auch Angst. Vor dem Tod oder einer Übernachtung in dem Ding.

Die Mitarbeiter der Seilbahngesellschaft hatten überall blinkenden Alarm und ärgerten sich. Die Technik war 30 Jahre alt und überall könnte der Auslöser sein. Dazu hatte die Anlage seit drei Jahren öfters technische Ausfälle und das Stahlseil war sehr marode. Bei der letzten Überprüfung waren viele Stränge durch und teilweise sind die Stahlseile so gut wie durch. 

Yuki ahnte nichts Gutes. Seine Hellseherin des Vertrauens hatte ihm vorausgesagt, dass heute viele Menschen in den Bergen sterben werden. Aber nicht wie. 

"Yuki, du wirkst so besorgt. Was ist los?", fragte seine Kollegin Rea.

"Ich habe ein ungutes Gefühl im Magen. Wir hätten die Mängel den Behörden melden sollen. Dann wäre der Laden erstmal dicht, aber man müsste alles erneuern. Sonst tut der Chef  die Mängel niemals beheben. Seit Jahren verschiebt dieser es doch. Vor allem machen mir die Seile Sorgen. Vorgestern waren sie fast am Reißen. Ich habe es dem Chef gemeldet, aber er meinte, sie halten noch ein paar Jahre", erklärte Yuki.

Rea schaute ihn besorgt an. Das Worst-Case wäre, wenn die Seile reißen und alle Menschen in den Tod stürzen würden. Dann würde der Chef sicher ihnen die Schuld zuweisen. Wie damals dem einen Kollegen, der einen schweren technischen Fehler bemerkte und daraufhin ein Waggon abstürzte. Drei Leute starben und einer überlebte verletzt. Bis heute muss der Kollege damit leben, die Zustände nicht gemeldet zu haben, als die Chance war.

Es knackte oberhalb des Waggons und man hörte, dass etwas nicht stimmte. Dann kam ein Knall und auf der anderen Seite stürzten alle Waggons ab, in denen Menschen waren. Young begann bitterlich zu Weinen und drückte sich an ihm. Dann stürzten auch sie ab.

Sie wachte auf und hatte furchbare Schmerzen. Blut schmeckte sie. Etwas steckte in ihrem Gesicht. Sie holte aus ihrer Tasche das Smartphone und machte das Licht an. Neben ihr lag ihr Bruder und er hatte eine Stange im Rücken. Andere Menschen lagen bewusstlos verteilt im und um den Waggon im Schnee. Sie suchte nach einem Puls bei ihrem Bruder, aber sie fand keinen. Weinend legte sie sich auf seine Leiche und wollte auch sterben. Aber dann dachte sie an die lebenden Opfer und an ihre Familie. Ihre Familie am eigenen Grab und am Grab von Ryo. 

"Ich suche nach Hilfe, geliebter Bruder. Falls du noch lebst, halte durch", sagte sie und kam auf die Beine. 

Überall hatte sie Schnittwunden und Platzwunden, aber anscheinend nichts Schlimmeres. Sie schaute nach den anderen Menschen und half den Leuten, die noch Laufen konnte. 

"Ich hole Hilfe. Sie müssen hier bleiben und die anderen Verletzten verarzten", sagte sie zu einer jungen Frau.

Diese nickte weinend und suchte sich ebenfalls Hilfe, weil sie mit der Menge der Menschen überfordert war. Young hinkte zu den anderen Waggons und fand Leute, die sich um die Verletzten kümmern wollten. Dazu sollten alle Fähigen ihr Smartphonelicht anmachen, damit man sie in der Ferne sieht.

Sie folgte den Masten und irgendwann kam ein Mitarbeiter der Seilbahngesellschaft auf seinem Schneejet entgegen. Dieser war über ihren Anblick entsetzt und holte sofort den Erste-Hilfe-Koffer. Er verband ihre Wunden und bat um ein Bericht. Weinend erzählte sie von den abstürzenden Waggons. Den vielen Toten. Ihren verletzten Bruder. Den Überlebenden.

Dieser machte sofort Meldung von den Ereignissen und in wenigen Minuten suchten mehrere Helikopter nach Überlebenden. Unmengen von Sanitäter und Ärzten waren auf dem Berg unterwegs und schätzten die Verletzungen ein. Mitarbeiter der Seilbahngesellschaft machten alles dicht und informierten die Kunden im Cafe, dass sie mit Helikopter vom Berg kommen. Es gäbe Probleme mit der Seilbahn. Wie sollte man sonst erklären, dass vermutlich viele Menschen wegen der fehlenden Wartung der Anlage verstorben sind. Die Piloten brachten die Kunden aus dem Cafe über eine andere Route runter. Sie sollten sich den Anblick ersparen. 

Der Hang war überall beleuchtet und viele Menschen wurden abtransportiert. Youngs Großeltern warteten wie andere Angehörige unten im Tal auf die Überlebenden. Man hatte sie benachrichtigt, weil man die Kontaktdaten und Angehörigen angeben musste. Andere mussten von außerhalb anreisen nach dieser Schocknachricht. 

Als sie sahen, wie man Young auf einer Trage runter brachte, brachen sie in Tränen aus. Sie rannten zu ihrer Enkelin und wollten sie drücken, aber die Ärzte haben es wegen den Verletzungen verboten.

"Wo ist Ryo? Wo ist dein Bruder?", fragten sie besorgt.

"Er ist noch oben beim abgestürzten Waggon. Ich glaube, er ist Tod", weinte sie bitter. 

Sie strichen ihr weinend über dem Kopf und ließen sie ins Krankenhaus bringen. Beide warteten noch eine Weile, bevor sie ihr ins Krankenhaus folgten. Am Ende brachte man Leichensäcke runter und oben hatten sie die Taschen festgebunden, damit man die Angehörigen identifizieren kann. Als sie den Rucksack von Ryo erkannten, brachen sie in Tränen aus. Sie baten die Sanitäter, den Leichensack zu öffnen. Als sie in Ryos toten Augen schauten, weinten sie mehr. Sie bestätigten ihn und bekamen seine Wertsachen. Der Sani legte einen Zettel in Folie gepackt mit dem Namen von Ryo Lee rein und machte den wieder zu.

Young wurde im Krankenhaus lange operiert und die Ärzte sagten bereits, dass es im Gesicht Narben geben wird. Aber dass sie auch trotz Schock so viel organisiert hatte und dadurch selbst Schwerstverletzte überlebt haben, die sonst Tod wären. Young war in deren Augen eine junge Heldin. 

Tann und Suki reisten einen Tag später an und mussten ebenfalls ihren Sohn identifizieren. Der Gerichtsmediziner sagte, er wäre sofort Tod gewesen, als die Stange in ihm eindrang. Aber das milderte nicht den Schmerz im Herzen. Und ihren Eltern wollte man auch keine Vorwürfe machen, da beide alt genug sind, auf sich aufzupassen. Oder waren. Wenn man an Ryo denkt. 

Die Behörden und die Polizei nahmen noch in der Nacht den Eigentümer und Chef fest. Yuki und Rea waren traumatisiert. Sie hatten sofort gekündigt und wollten mit dem Kerl nichts mehr zu tun haben. Wegen ihm haben sie Menschen in den Tod geschickt. Das verfolgt sie bis ans Lebensende. Auch der Kollege im Tal nahm erstmal Urlaub. Um nachzudenken. Sollte er bleiben oder nicht?

Der Vorgesetzte stellte sich auf dem Revier bei der Befragung als Opfer dar. Das Personal sei doch für den Zustand der Anlage und der Seile zuständig. Auch finanziell. Die Behörden glaubten, die verhörten sich. Sie hatten bereits mit dem Personal vom Abend gesprochen, um den Kerl einzuschätzen. Mit ihnen hatten sie Mitleid. Sie machten nur ihren Job und ihr geiziger Boss trug die Verantwortung. Natürlich wollten sie auch einige Kollegen verhören. Wenn eine Anlage so marode ist, muss es doch aufgefallen sein. Außer man ist Geldblind und lässt sich kaufen. Dann würden auch diese Köpfe schnell rollen. Denn wegen so einem inkompetenten Verhalten gab es viele Tote und Verletzte. Und das nicht zum ersten Mal. 

Nach zwei Wochen wurden Young die Verbände aus dem Gesicht entfernt. Ihre Familie war über das Aussehen entsetzt. Überall Narben und alles war noch leicht geschwollen. Ihre Eltern hatten bereits eine Klage gegen den Betreiber der Seilbahn gestellt. 

In den Medien machte es international die Runde, da auch Touristen verstarben und Angehörige ihre Zimmer in den Hotels räumen mussten. Noch immer war der Betreiber uneinsichtig, obwohl er in Untersuchungshaft schmorte seit der Verhaftung. Er wollte seine Familie sehen, aber diese kümmerte sich lieber um Schadensbegrenzung und distanzierte sich von ihm. Sie sprachen mit den Angehörigen und Überlebenden. Alle bekamen einen hohen Betrag ausgezahlt und teilten ihr Bedauern mit. Manche nahmen nicht mal das Geld, weil es Tote nicht ersetzt. Sie wollten sich nicht kaufen lassen. Sie wollten den Typen vor Gericht bluten sehen und dann erst das Geld bekommen. Seinen Schmerz sehen, wenn er Geld verliert. 

Ryo wurde in seiner Geburtsstadt beerdigt. Young bedeckte ihr Gesicht, damit sie keiner anstarrte. Alle hatten Mitleid mit ihr, aber sie kannten ihre neue Welt nicht, wo man als Monster beschimpft wird, weil man entstellt ist. Wenige Wochen später verstarben die Großeltern. Ihre alten Herzen haben das Ganze nicht verkraftet. Sie gaben sich die Schuld, obwohl Suki und Tann sie entlasteten. Sie hätten nicht wissen können, dass sowas passiert. 

Jetzt wohnen die Lees in San Myshuno, um die Vergangenheit ruhen zu lassen.


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